Anno dazumal vor vielen Jahren
Ist den Ulmern folgendes widerfahren:
Zu allerlei Bauten in der Stadt
Man Rüst- und Bauholz nötig hat’,
Doch wollt es den Leuten nicht gelingen
Die Balken durchs Tor hereinzubringen,
Und doch war reiflich die Sach’ überlegt
Das Holz in die Quer’ auf den Wagen gelegt;
Das Tor war zu eng, die Balken zu lang,
Dem Stadtbaumeister ward angst und bang.
Viel gab es hin und her zu sprechen:
Und ungeheures Kopfzerbrechen,
Ja, selbst der hohe Magistrat
Wusste für diesen Fall nicht Rat,
Er mochte in alle Bücher sehen,
Der Casus war nirgends vorgesehen,
Der Bürgermeister selbst sogar
Hier ausnahmsweise ratlos war.
Ihm, der doch alles am besten weiß,
Machte die Sache entsetzlich heiß.
Und stündlich wuchs die Verlegenheit,
Da – begab sich eine Begebenheit
Von den klügsten einer ein Spätzlein schauet,
Das oben am Turm sein Nestlein bauet,
Und einen Halm, der sich in die Quer’
Gelegt hat vor sein Nestchen her,
Mit dem Schnäblein – und das war nicht dumm
An der Spitze wendet zum Nest herum,
„Das könnte man“, ruft der Mann mit Lachen,
„Mit dem Balken am Tore ja auch so machen!“.
Man probierts und es ging. – Den guten Gedanken
Hatten die Ulmer dem Spätzlein zu danken:
Sie stünden wohl heute noch an dem Tor
Mit dem balkenbeladenen Wagen davor,
Oder hätten, ohne des Spätzleins Wissen,
Gar den Turm auf den Abbruch verkaufen müssen.
Zum Danke dem Spatzen ist heut noch zu schauen
Hoch am Münster sein Bild in Stein gehauen:
Auch seitdem beim echten Ulmerkind
Die Lieblingsspeise „Spätzle“ sind.
unbekannter Dichter – 19. Jahrhundert
Die Legende vom großen Balken beim Bau des Ulmer Münsters ist eine wunderbar humorvolle Geschichte, die seit dem 19. Jahrhundert überliefert ist. Der Sage nach hatten die Bauarbeiter Schwierigkeiten, einen außergewöhnlich großen Balken durch das Stadttor zu bringen. Keine ihrer Versuche schien von Erfolg gekrönt zu sein, und sie waren kurz davor, das Tor einzureißen.
Doch dann geschah etwas Außergewöhnliches: Sie entdeckten einen Spatz, der einen Zweig im Schnabel trug, um ihn in sein Nest einzubauen. Und dieser Spatz flog scheinbar mühelos mit dem Zweig längs durch das Tor. Da ging den Ulmern ein Licht auf – sie hatten den Balken bisher immer quer transportiert, anstatt ihn längs auf ihren Karren zu legen.
Diese witzige Sage ist ein Teil einer weit verbreiteten Legendenreihe über den Transport von Baumstämmen und Holzbalken. Dabei wird das Problem oft durch die Beobachtung eines Vogels gelöst, der beim Nestbau hilfreiche Hinweise liefert. Ob es nun ein Sperling, ein Storch oder eine Dohle war, ist dabei nicht so wichtig.
Schon im Jahr 1872 wurde die Legende von dem deutschen Kunsthistoriker und Lithografen Eduard Mauch als eine “Geschichtsfälschung” bezeichnet, die bekämpft werden müsse, um die Wahrheit aufrechtzuerhalten. Doch letztendlich ist diese Geschichte vor allem eins: ein amüsantes Beispiel dafür, wie man manchmal einfach nur um die Ecke denken muss, um ein Problem zu lösen.
Der ursprüngliche Vogel auf dem Dachfirst des Mittelschiffs des Ulmer Münsters, der vor 1550 und wahrscheinlich bereits im 15. Jahrhundert angebracht wurde, war aus Ziegelsteinen modelliert und dürfte ein relativ grobes Aussehen gehabt haben. Möglicherweise handelte es sich um eine Taube, vergleichbar mit der biblischen Geschichte von der Arche Noah. Laut der Chronik des Ulmer Schuhmachers Sebastian Fischer von 1550, der das Münster in zwei Zeichnungen festhielt, sollte die Figur die Mitte der Stadt symbolisieren: „Es wurde mir glaubhaft mitgeteilt, dass der große Vogel auf dem Langhaus des Münsters das Zentrum der Stadt darstellt, ich kenne jedoch keinen Grund dafür, sondern so wurde es mir mitgeteilt.“ Obwohl nicht sicher ist, ob der Vogel tatsächlich eine Taube darstellte, zeigt die Zeichnung von Fischer eher einen papageienähnlichen Vogel. Diese Einschätzung muss jedoch im Zusammenhang mit Fischers zeichnerischen und perspektivischen Fähigkeiten betrachtet werden. Da sich der Vogel dem Hauptturm zuwendet, weist er eher eine beschützende religiöse Bedeutung auf, als eine spielerische oder humoristische, was wiederum für eine Taubenart sprechen würde.
Im Laufe der Jahrhunderte entwickelte sich der Vogel zu einem Wahrzeichen der Stadt, ohne dass bekannt wäre, welche Bedeutung mit ihm verbunden war. So schrieb der Pfarrer Michael Dieterich (1767–1853) noch 1825, unter Verwendung der Beschreibung des Ulmer Münsters von Elias Frick (1673–1751), dass der steinerne Vogel „für viele noch ein Wahrzeichen der Stadt Ulm“ sei.
Während der Renovierung unter dem Münsterbaumeister Ferdinand Thrän brach im Sommer 1854 der alte Vogel in Trümmer. Thrän fertigte einen neuen Vogel aus Sandstein an, der “sechsmal so groß wie natürliche Größe” war und einen Strohhalm im Schnabel hatte. Er bezeichnete den neuen Vogel von Anfang an als “Ulmer Spatz”. Die Anbringung des neuen Sperlings auf dem Dachfirst des Langhauses verzögerte sich jedoch aufgrund heftiger Auseinandersetzungen in Ulm und erfolgte erst 1858. 1888 wurde der Spatz aus Kupfer und vergoldet hergestellt und durch die Ulmer Gesellschaft “Hundskomödie” gestiftet. Die Kunstschlosserei Eichberger & Leuthi in Stuttgart fertigte den Spatz an. Das ursprüngliche Werk von 1858 befindet sich heute im Ulmer Münster in einer Vitrine in der Nähe des Eingangs an der Südwand.